Neue Technologien sind die Grundlage für durchgängige Datenströme

Wenn Unternehmen der Prozessindustrie – und allen voran die Chemie – künftig in Kreisläufen produzieren will, dann führt an einer durchgängigen Vernetzung kein Weg vorbei. Die Grundlagen dafür werden bereits seit einigen Jahren gelegt: Digitaler Zwilling, Verwaltungsschalen, Namur Open Architecture oder Ethernet-APL sind die Buzzwords, die Prozessautomatisierer dabei elektrisieren. Die diskutierten Technologien sind allerdings so vielfältig, dass mancher Beobachter den Blick aufs Ganze verloren hat. Doch nicht zuletzt auf der ACHEMA 2024 wurde deutlich, dass unter dem Leitbild Digitalisierung inzwischen vieles seinen Platz findet, was zuvor teilweise als Spielwiese der Tekkies belächelt worden war.

Starten wir also zunächst beim ganz großen Wurf: Dem digitalen Zwilling. Seit mehr als einem Jahrzehnt versprechen sich Automatisierer und Digitalisierer großen Nutzen aus der Abbildung realer Anlagen in der digitalen Welt: Zur Prozessoptimierung lassen sich mit ihm Szenarien und Optionen simulieren, angehende Anlagenbediener nutzen ihn zu Trainingszwecken, Instandhalter ergänzen den Zwilling um Analysetools, um so Wartungsbedarfe frühzeitig zu erkennen und die Wartung optimal zu planen.

Wichtig ist, den Begriff „Digitaler Zwilling“ sauber zu definieren – denn dieser ist mehrdeutig. Häufig wird darunter lediglich das Simulationsmodell verstanden, welches in eigenen Formaten erstellt und angeboten wird. Digitale Zwillinge auf Basis der Verwaltungsschale unterscheiden sich hier deutlich. Verwaltungsschalen werden maßgeblich durch die Industrial Digital Twin Association (IDTA) weiterentwickelt. Ziel der IDTA ist die Etablierung der Verwaltungsschale, sowie der Weiterentwicklung von Submodellen. Verwaltungsschalen als Datenmodell zeichnen sich insbesondere durch ihre Interoperabilität aus. Durch die Verwendung von Klassifizierungen, z. B. ECLASS können alle Informationen in Softwareumgebungen, wie in ein ERP- oder Asset-Management-System, problemlos importiert werden.

Auch wenn in Prozessindustrien wie der Chemie bis zuletzt noch kein flächendeckender Einsatz des digitalen Zwillings gelungen ist, so kommt das Thema inzwischen doch voran. Denn immer mehr Verantwortlichen in der verarbeitenden Industrie wird klar, dass durchgängigen Datenströme viele Aufgaben einfacher machen. Vor allem solche, die mit der Transformation weg von der linearen Wirtschaft (Nehmen-Herstellen-Entsorgen) und hin zu einer Kreislaufwirtschaft entstehen. In der Kreislaufwirtschaft werden Produkte am Ende ihres Lebenszyklus wieder zum Rohstoff für neue Chemikalien. Damit die dazu notwenigen Daten jederzeit verfügbar sind, muss der digitale Zwilling künftig die gesamte Supply Chain virtuell abbilden.

Zusätzlichen Schub erhält das Thema inzwischen durch die Vorgaben der EU-Kommission: Denn im Rahmen neue ESPR-Richtlinie (Eco-design for Sustainable Products Regulation), die bereits in 2026 in Kraft treten soll, wird ein Digitaler Produktpass gefordert, der umfassende Informationen über die Lebensdauer von Produkten und deren ökologischem Fußabdruck beinhaltet. Ohne diesen dürfen Produkte ab 2026 nicht mehr in der EU in Verkehr gebracht werden. Obwohl die Richtlinie keine detaillierten Vorgaben dazu macht, wie dieser Digitale Produktpass realisiert werden soll, bietet sich die bereits genannte Lösung aus digitalem Zwilling und Verwaltungsschale dazu regelrecht an.

Kreislaufwirtschaft braucht transparente Daten

In einer Kreislaufwirtschaft interessiert die Beteiligten über Unternehmensgrenzen hinweg, wo welche Feedstocks in welcher Qualität verfügbar sind. Störungen in der Lieferkette müssen dabei genauso berücksichtigt werden, wie deren Folgen für die Produktion und die Lieferfähigkeit. Sind diese Daten transparent und in Echtzeit verfügbar, lassen sich auch Produktionsprozesse planen, umrüsten oder an veränderte Rohstoffe anpassen. Transparenz ist auch deshalb wichtig, damit Emissionen für jedes Produkt exakt bilanziert werden können – so lässt sich nicht nur wettbewerbsverzerrendem Greenwashing vorbeugen, sondern auch Nachhaltigkeitsbilanzen können dadurch einfacher erstellt werden – auf deren Basis die richtigen Entscheidungen getroffen werden können, um das Net-Zero Ziel zu erreichen.

Dazu kommt ein weiterer Komplexitätsgrad: Die Transformation des Energiesystems führt dazu, dass immer mehr Prozesse von fossilen Energieträgern auf Strom aus erneuerbaren Energien umgestellt werden – die Elektrifizierung der Chemie ist bereits in vollem Gang. Doch Strom aus Wind- und Sonnenenergie steht nicht kontinuierlich zur Verfügung. Wo bislang Anlagen für einen kontinuierlichen Betrieb auf Basis jederzeit verfügbarer Energieträger und Rohstoffe geplant wurden, werden sich künftig die Betreiber wirtschaftliche Vorteile erschließen, die ihre Prozesse flexibel am Energie- und Rohstoffaufkommen ausrichten. Hinzu kommt das übergeordnete Ziel, Energiewirtschaft, Industrie, Verkehr und Gebäude im Sinne der Sektorkopplung miteinander zu verbinden und gemeinsam zu optimieren. Auch diese Dimension macht die Steuerung der Chemieproduktion komplexer. Und spätestens hier wird deutlich, dass der Mensch allein angesichts der Fülle an Optimierungszielen und Einflussgrößen überfordert ist: Der Schlüssel zu einer holistischen Optimierung liegt auch deshalb in digitalen Tools.

KI und MI setzen konsistente Daten voraus

Großen Nutzen und Unterstützung bei der Entscheidungsfindung verspricht sich die Industrie hier von neuen Werkzeugen auf Basis von maschinellem Lernen und künstlicher Intelligenz. Diese spielen ihre Stärken überall dort aus, wo große Datenmengen vorhanden sind – und hier liegt die Crux: Die Chemieunternehmen produzieren heute zwar bereits so viele Daten wie nie zu vor, häufig ist der Datenbestand jedoch inkonsistent und häufig fehlt der Kontext – beispielsweise über die Zusammenhänge in Stoffkreisläufen. Das Problem ist bekannt und die Branche arbeitet längst an Lösungen: In der 2011 von BASF, Bayer und Evonik gegründeten DEXPI-Initiative wurde beispielsweise ein neutrales Datenformat definiert, mit dem Prozessinformationen zwischen Softwareprodukten verschiedener Hersteller von Ingenieurswerkzeugen ausgetauscht werden können. Die aktuelle Manufacturing-X-Initiative geht noch einen Schritt weiter: Die Akteure der Plattform Industrie 4.0 haben sich damit zum Ziel gesetzt, den Datenraum Industrie 4.0 und die Transformation zu einer digital vernetzten Industrie in der ganzen Breite zu realisieren. Schließlich soll so eine datenbasierte Wirtschaft geschaffen werden.

Doch für all diese Initiativen gilt dieselbe Grundvoraussetzung wie auch für die Kreislaufwirtschaft: Sie benötigen Transparenz über Prozesse und eingesetzte Ressourcen in der ganzen Wertschöpfungskette; und sie setzen voraus, dass Daten auch über Unternehmensgrenzen hinweg geteilt werden, ohne dass dieses zu einem Know-how-Abfluss bei den Unternehmen führt. Und häufig entsteht der Nutzen aus der Digitalisierung – beispielsweise der Produktion – an einer ganz anderen Stelle; ohne eine ganzheitliche Sicht fehlt Prozessbetreibern häufig der Business Case und damit die Motivation für Investitionen in Digitalisierung. Selbst innerhalb der Unternehmen klaffen Datenlücken: Ein inzwischen schon klassisches Beispiel ist der informationstechnische Bruch zwischen Anlagenplanung und Betriebsphase: Häufig müssen in Digitalisierungsprojekten Daten mühsam rekonstruiert werden, die in der Planung zwar bereits digital vorhanden waren, aber aufgrund unterschiedlicher Zuständigkeiten nicht in einem digital lesbaren Format weitergegeben wurden. In einer künftigen Kreislaufwirtschaft müssen zudem Informationen zu einem Produkt über dessen Lebenszyklus hinweg weitergegeben werden – hier könnte unter anderem der Einsatz von Blockchain-Lösungen für durchgängige Informationsströme in der Wertschöpfungskette sorgen. Die Beispiele zeigen: Digitalisierungsverantwortliche müssen ihren Blick auf die gesamte Wertschöpfungskette richten.

Die Rolle der Prozessautomatisierung ändert sich

In diesem Kontext verändert sich auch die Rolle der Prozessautomatisierer: Diese schaffen einerseits die Voraussetzungen für konsistente Datenströme, andererseits tragen sie dazu bei, die Datenströme zu managen. Dass die Grenzen zwischen IT (Informationstechnologie) und OT (Operational Technology) verschwimmen, lässt sich bereits bei zahlreichen Unternehmen der Chemie beobachten – Industrie 4.0 und die digitale Transformation führen zu einer verstärkten Konvergenz von IT und OT und der Integration und Vernetzung von Systemen. Diese müssen in der Chemie jedoch immer vor dem Hintergrund hoher Sicherheitsanforderungen erfolgen.

Auch die aktuellen Initiativen der Prozessautomatisierer sind Teil des Zielbilds einer digitalisierten Chemie: Die Ethernet-basierte Kommunikationstechnologie Ethernet-APL (Advanced Physical Layer) soll der Digitalisierung des Feldes (Sensoren, Aktoren) zum Durchbruch verhelfen. Auf der ACHEMA 2024 waren dazu bereits zahlreiche Lösungen – sowohl in Form von Feldgeräten, als auch zur Datenübertragung – zu sehen. Die Mechanismen, damit dies auch herstellerübergreifend funktionieren kann, sind inzwischen etabliert. Verantwortlich ist hier u.a. die Profinet International (PI) Organisation, in deren Hände zuletzt auch noch zwei weitere Projekte gelegt wurden: Die Namur Open Architecture (NOA). Mit dieser können die einstmals in Feldgeräten gestrandete Daten für Optimierungsanwendungen – beispielsweise in Cloud-Applikationen – nutzbar gemacht werden: zum Beispiel um Anomalien zu erkennen oder um Wartungskosten, Energie- und Rohstoffverbräuche zu reduzieren.

Das zweite Projekt verspricht Flexibilität, der Ansatz der Modulautomation: Über das Module Type Package (MTP) werden Anlagenmodule standardisiert beschrieben – dadurch sinkt der Integrationsaufwand beim Zusammensetzen modularer Anlagenkomponenten massiv. Allein für den Engineeringaufwand werden mit MTP bis zu 70 % Zeiteinsparung erwartet. Und noch ein weiteres Akronym ist in diesem Kontext wichtig: OPA-S. Mit dem Open Process Automation Standard wird derzeit eine standardisierte und herstellerunabhängige Architektur für die Automatisierung von Prozessanlagen geschaffen. Vor allem die Interoperabilität zwischen Geräten und Systemen verschiedener Hersteller soll so gefördert werden. Dadurch können Anlagenbetreiber ihre Systeme einfacher skalieren und erweitern und besser auf Daten aus verschiedenen Quellen zugreifen.

Fazit

Durchgängige digitale Datenströme sind eine wichtige Voraussetzung auf dem Weg zu einer klimaneutralen Wirtschaft. Prozessautomation und der digitale Zwilling sind zentrale Bausteine der Digitalisierung, wobei deren Implementierung weit über die reine Anlagenautomatisierung hinausgehen muss, um die gesamte Wertschöpfungskette abzubilden. Aktuelle Initiativen und Technologien der Prozessautomation wie Ethernet-APL, NOA, MTP und OPA-S helfen dabei, die Daten aus den Produktionsprozessen bereitzustellen.

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