Ein gelungenes Normungsprojekt aus dem Explosionsschutz

Aus Industriekreisen sind häufig Klagen über die angebliche Langsamkeit und Schwerfälligkeit der Normungsorganisationen zu hören. Dies würde den technischen Fortschritt in Industrie und Gesellschaft behindern und das Geschäftsleben negativ beeinflussen. Solche pauschalen Aussagen sind immer mit der nötigen Vorsicht zu genießen. Einerseits enthalten sie in der Regel einen Kern von Wahrheit und sollten Ansporn für die ständige Verbesserung der Normungsprozesse sein. Andererseits gibt es unzählige Beispiele von Normungsprojekten, die auf Drängen der Industrie oder verwandter Bereiche in kürzester Zeit umgesetzt wurden.

Ein solches Beispiel aus dem Bereich des Explosionsschutzes möchte ich beschreiben:

Im September 2014 tagte die Executive Group des IECEx-Systems in Dubai. Ein besonders intensiv diskutiertes Thema während des Treffens war die Prüfung und Zertifizierung von explosionsgeschützten Baugruppen. Die Vertreter der Zertifizierungsstellen (im Folgenden ExCB) wiesen darauf hin, dass sie zwar über ausreichende Kompetenzen verfügen, um einzelne explosionsgeschützte Betriebsmittel in den verschiedenen Zündschutzarten zu prüfen und zu zertifizieren, dass sie aber bei der Bewertung der Baugruppe oft unterschiedlich vorgehen und die externe elektrische Verdrahtung verschiedener Geräte zu Baugruppen überfordert wäre. So ist die elektrische Installation von Ex-Geräten eine typische Aufgabe von Betreibern und beauftragten Fachfirmen und gehört nicht unbedingt in den Kompetenzbereich einer ExCB. Zudem fehlen den Herstellern oft die notwendigen Informationen, um eine umfassende und korrekte Beurteilung vornehmen zu können. Die korrekte Ausführung bei der elektrischen und mechanischen Installation der Einzelteile ist entscheidend für die Sicherheit der Gesamtanlage.

Das Beispiel der europäischen ATEX-Richtlinie zeigt den Wert einer Art Brückendokument, das mögliche Sicherheitskonzepte für den Zusammenbau von Geräten zu explosionsgeschützten Baugruppen festlegt. Es sollte eine spezielle IEC-Norm oder zumindest eine technische Spezifikation (IEC/TS) erarbeitet werden, die die wichtigsten Vorgaben für die korrekte Montage von Ex-Baugruppen enthält und damit als Prüf- und Zertifizierungsgrundlage für ExCBs dient.

Ein entsprechender Vorschlag (New Work Item Proposal) wurde erarbeitet und dem Technischen Komitee TC 31 der IEC vorgelegt und von diesem angenommen. Die erste Sitzung des neuen Normenausschusses (Maintenance Team MT) fand im Frühjahr 2015 in Windsor bei London statt. Die Teilnahme von mehr als 50 internationalen Experten an diesem Kick-off-Meeting sowie die Rekordgeschwindigkeit bei der Fertigstellung des Dokuments unterstrichen die Bedeutung und Dringlichkeit der Lösung. Etwas mehr als zwei Jahre nach dem Kick-off-Meeting wurde die IEC/TS im Jahr 2017 als gültiges Dokument veröffentlicht.

In der Einleitung heißt es: "Diese technische Spezifikation enthält Anforderungen an die Auslegung, den Bau, die Montage, die Prüfung, die Erstprüfung, die Kennzeichnung, die Dokumentation und die Bewertung von Gerätebaugruppen, so dass die Ex-Geräte und die Verbindung der Geräte untereinander eine Baugruppe bilden, die auch andere Teile der ISO 80079- und IEC 60079-Reihe erfüllt." Neben diesen Vorgaben für die genannten Tätigkeiten befasst sich die technische Spezifikation vor allem mit dem mechanischen Zusammenbau und der elektrischen Verbindung der verschiedenen Komponenten, die ebenfalls zertifizierte Ex-Geräte sein können, aber nicht immer sein müssen. Der Explosionsschutz der gesamten Baugruppe muss durch die korrekte Montage und die elektrische Anschlusstechnik gewährleistet sein, d.h. es dürfen dadurch keine neuen Zündquellen erzeugt werden.

Die neue technische Spezifikation wurde von den Herstellern, Systemintegratoren, den ExCBs und den Betreibern von verfahrenstechnischen Anlagen nach ihrer Veröffentlichung sofort angenommen und wird seitdem intensiv genutzt. Heute, d.h. rund 5 Jahre nach Inkrafttreten, sind mehr als die Hälfte aller IECExCBs für die Prüfung und Zertifizierung von Baugruppen nach IEC/TS 60079 akkreditiert.  Ein Blick in die IECEx-Online-Datenbank zeigt, dass derzeit rund 290 Zertifikate für Baugruppen auf Basis dieses Dokuments ausgestellt wurden. Eine echte Erfolgsgeschichte! Besonders erfreulich ist die Tatsache, dass bereits 17 Zertifikate für Wasserstoffbaugruppen ausgestellt worden sind. Um in diesem Zukunftsbereich noch besser geeignete Prüf- und Zertifizierungsdienstleistungen anbieten zu können, wurde kürzlich das in enger Zusammenarbeit mit dem ISO TC 197 entwickelte Arbeitsdokument OD 290 von IECEx verabschiedet. Auch dieses Dokument wurde in Rekordzeit erstellt! Manchmal ist also die Leistung der Normungsorganisationen viel besser als ihr Ruf!

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