Mit Ethernet ins Feld. Oder?

Die Prozessautomatisierung ist bereit für den Einsatz von Ethernet bis in die Feldebene – so scheint es zumindest, wenn man die aktuelle Berichterstattung verfolgt. Hersteller haben zusammen mit Nutzerorganisationen in den letzten Jahren Lösungen entwickelt um Ethernet für den Einsatz im rauen Alltag der Prozessindustrie tauglich zu machen und werden in Kürze Produkte vorstellen. Und dann geht es los. Oder?

Statement von André Fritsch, Mitglied der Ethernet-APL Arbeitsgruppe

„Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube“ möchte man wie einst Goethe‘s Faust sagen, wenn man die letzten Jahrzehnte rekapituliert. Der Ruf nach digitalen Übertragungstechniken und intelligenteren Lösungen existiert nicht erst, seit Industrie 4.0 in aller Munde ist. Als einer der ersten Hersteller brachte R. STAHL bereits 1987 ein Remote I/O-System auf den Markt, dass sogar in explosionsgefährdeten Bereichen der Zone 1 installiert werden konnte und über einen digitalen Feldbus kommunizierte. Eine Revolution, ein „Game Changer“, möchte man meinen: Es dauerte aber noch über 10 Jahre bis sich der „intelligente Klemmenkasten“ etablieren konnte und auch andere Hersteller Produkte auf den Markt brachten. Die inzwischen dritte Generation von R. STAHL (IS1+) ist heute Marktführer bei Remote I/O in der Zone 1 – aber im Vergleich zur konventionellen 4...20 mA Installation weit abgeschlagen. Warum sollte es also dem neuen Ethernet besser ergehen? Um die Antwort gleich vornewegzunehmen: weil die Zeit reif ist.

Wenn nicht jetzt der Umstieg auf Ethernet erfolgt, wann dann?

André Fritsch, Mitglied der Ethernet-APL Arbeitsgruppe

Selten hat man so viele Aktivitäten in Bezug auf Digitalisierung und digitale Transformation erlebt, wie in den letzten Jahren. Vor 20 Jahren lag das Augenmerk primär darauf, die Prozesse zu beherrschen und am Laufen zu halten. Zwar sind zunehmend mehr Feldgeräte mit HART-Kommunikation in den Anlagen installiert, wenn man aber genauer hinschaut, dienen diese in erster Linie dazu, lokal mit einem Handheld, Parameter ändern zu können – wenn überhaupt. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, müssen die neuen Lösungen mit dieser installierten Basis zurechtkommen. Ein Kardinalsfehler, der den 2-Draht Feldbussen wie Foundation Fieldbus H1 oder PROFIBUS PA unterlaufen ist. Ein Grund, warum Remote I/O-Lösungen nach wie vor und sogar zunehmend eingesetzt werden. IS1+ ist eines der ersten Systeme mit Ethernet-Connectivity – anfangs über explosionsgeschützten Lichtwellenleiter, mittlerweile auch mittels eigensicheren Kupferkabeln.

Die Entwicklung des eigensicheren 4-Draht Ethernets 100BASE-TX-IS durch die „Intrinsically Safe Ethernet“ Working Group kommt zum richtigen Zeitpunkt. Im Fokus stehen komplexere Feldgeräte, Analysegeräte, Bedienterminals, CCTV-Kameras oder eben Remote I/O-Systeme wie IS1+. Die Idee dahinter ist, das verbreitete 100BASE-TX Ethernet gemäß IEEE 802.3 um ein eigensicheres, standardisiertes Frontend zu erweitern, und damit 4-Draht Ethernet mit Datenraten von bis zu 100 Mbit/s als eigensichere Ausführung verfügbar und dabei vollständig interoperabel zum Industriestandard zu machen. Die Standard-Elektronik von Geräten mit IEEE 802.3u konformen MAC (Media Access Control) und 100BASE-TX PHY (Physical Layer) bleibt bestehen und wird um eine Ex i-Schaltung ergänzt. 100BASE-TX-IS bietet keine integrierte Speisung und Entfernungen sind mit CAT-Kabeln bis maximal 100 m möglich. Ergänzend sind entsprechende 100BASE-TX-IS-Switches und -Medienkonverter mit zusätzlichen LWL-Schnittstellen vorgesehen, die bei Einsatz von Single Mode Fasern sogar 30 km oder mehr überbrücken können.

Der zweite Baustein im Ethernet Puzzle ergänzt auf der einen Seite die 100BASE-TX-IS Lösung und eröffnet auf der anderen Seite für die Feldgeräteebene neue Möglichkeiten: das Ethernet-Advanced Physical Layer (Ethernet-APL). Ethernet-APL ist die dedizierte Lösung für den Einsatz von Ex i-2-Leiter-Feldgeräten in der Prozessautomatisierung. R. STAHL arbeitet hier zusammen mit 11 weiteren Herstellern und den vier Standard Entwicklungsorganisationen (SDO) für industrielle Kommunikation zusammen: FieldComm Group (FCG), ODVA, OPC Foundation und PROFIBUS+PROFINET International (PI). Die SDO stellen u.a. sicher, dass Ethernet-APL kompatibel zu den jeweiligen Kommunikationsprotokollen ist, also sowohl HART-IP (FCG), EtherNet/IP (ODVA), OPC UA (OPC Foundation) und PROFINET (PI) unterstützt. Diese Zusammenarbeit ist in dieser Form einzigartig und wird für eine rasche Verbreitung der Technologie sorgen.

Blog Explosionsschutz R. STAHL Ethernet-APL André Fritsch

Ethernet-APL basiert auf dem Physical Layer von Single Pair Ethernet (SPE) 10BASE-T1L und kann auf 2-Draht-Leitungen Entfernungen bis 1000 m bei 10 Mbit/s überbrücken – mit gleichzeitiger Versorgung der angeschlossenen Geräte. Ethernet-APL ist zu den meisten Eigenschaften von SPE kompatibel, verwendet allerdings ein von PoDL (Power over Data Lines) abweichendes Speisekonzept, um die Verwendung der Zündschutzart Eigensicherheit zu ermöglichen. Angelehnt an das Ex i-Systemkonzept für Feldbusse, FISCO (Fieldbus Intrinsically Safe Concept), wurde zusammen mit der DEKRA EXAM 2-WISE (2-Wire Intrinsically Safe Ethernet) entwickelt und in der IEC TS 60079-47 standardisiert. Damit können Ethernet-APL Geräte unterschiedlicher Hersteller auch ohne den wenig geliebten rechnerischen Eigensicherheitsnachweis zusammengeschaltet werden. Um die Migration von bestehenden Feldbusinstallationen möglichst einfach zu gestalten – und den vorher genannte Fehler nicht zu wiederholen – verwendet Ethernet-APL auch die sogenannten Feldbus Typ A Kabel nach IEC 61158-2. Im Wesentlichen besteht damit der Unterschied zu den klassischen Feldbussen in der deutlich höheren Bandbreite von Ethernet-APL mit 10 Mbit/s im Vergleich zu 31,25 kBit/s und vor Allem der Möglichkeit, durchgängige IP-Kommunikation von der Cloud bis ins Feld zu erreichen.

Apropos Anwender: Noch ist die Eingangsfrage nicht beantwortet, was mit „Ethernet in the Field“ in der Praxis passieren wird. Das lässt sich natürlich zu diesem Zeitpunkt nicht mit Sicherheit beantworten, aber die Zeichen stehen gut. Die unterschiedlichen Konzepte und Strukturen, die im Rahmen der Digitalisierung betrachtet werden, setzen alle standardisiertes Ethernet voraus bzw. würden sich ohne dieses sehr schwer tun. Sowohl 100BASE-TX-IS als auch Ethernet-APL passen hier hervorragend. In der NAMUR Open Architecture (NOA) greift ein zweiter Kanal auf zusätzliche Daten aus der Feldebene zu. Diese können von Ethernet-APL Feldgeräten stammen oder auch von klassischen HART Geräten, die mittels Remote I/O in die Ethernet-Infrastruktur überführt werden und beispielsweise über OPC UA zu Datenservern gelangen. Bereits 2019 hat R. STAHL im Rahmen der NAMUR Hauptsitzung einen Prototyp mit dem PA-DIM (Process Automation Device Information Model) vorgestellt. Mit Ethernet im Feld hat der Anwender jetzt die technische Basis, aus den Unmengen von Daten in den Anlagen auch verwendbare Informationen und daraus echten Mehrwert zu generieren – er muss es nur noch tun.

Der Worte sind genug gewechselt. Lasst uns endlich Taten sehen.

André Fritsch, Mitglied der Ethernet-APL Arbeitsgruppe

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